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"Die  Zukunft der demokratischen Finanzkulturen des 21. Jahrhunderts liegt in einer  bewußteren gegenseitigen Ergänzung zwischen den USA und Europa“. Gespräch mit  Buchautor Roland Benedikter über kulturelle Grundlagen und globalpolitische Folgen  der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 - 10: Elemente für eine Analyse von Systemmechanismen  der kommenden Jahre 
Frage: Ihr neues Buch „Social Banking and Social Finance: Answers to the  Economic Crisis“ (Springer Verlag New York, 13. Januar  2011 ) stellt  in den ersten 3 Teilen die Ursachen der Finanzkrise als Zusammenwirken zweier  Spekulationsblasen: der Derivate- und der Immobilienblase dar - also des  Abdriftens großer Teile des volkswirtschaftlich verfügbaren Kapitals seit 1989 in  zwei an sich unproduktive „Parasitär-Wirtschaften“. Diese standen spätestens ab  einem bestimmen Punkt im Jahr 2007 in keinem Verhältnis mehr zur Realwirtschaft,  was schliesslich zum Zusammenbruch führte. In den weiteren 11 Teilen des Buches  geben Sie Hinweise, wie eine solche Krise in Zukunft verhindert werden kann. Im  Kern geht es darum, dass Kapital nachhaltiger in der Realwirtschaft statt in den  spekulativen Bereichen von „Phantasiewirtschaften“ eingesetzt wird. 
Benedikter: Ja. Die „Phantasiewirtschaften“ - oder „Parasitär-Wirtschaften“ ,  wie ich sie in der Tat lieber nennen würde, weil das ihnen zugrundeliegende  Gebahren weniger mit Phantasie, als vielmehr mit Gier zu tun hatte - wuchsen  zwischen 1989 und 2007 nicht linear, sondern exponentiell. Sie verfünffachten  sich allein zwischen 2002 und 2006 und betrugen 2007 516 Billionen (trillion) $  allein in einer der beiden Blasen, der Derivate-Blase: Kapital, das ohne  Nachhaltigkeit nur auf der Suche nach schnellen Profiten wie ein riesiger Geier  über der Erde kreiste, und dabei gleichsam der Realwirtschaft entzogen wurde. Ähnliche  Summen werden für den Immobilienbereich kolportiert, der genau wie der  Derivate-Bereich ja im Grunde nichts oder nur sehr wenig produziert, sondern  dasjenige, was bereits vorhanden ist, durch Spekulation immer neu bewertet. Im  Vergleich: Das gesamte Bruttosozialprodukt aller Staaten der Erde zusammen  betrug 2008 50 Billionen (trillion) $ (etwa 15 Billionen $ davon sind der  Anteil der USA), der US-Staatshaushalt 3 Billionen (trillion) $. Daran können  sie die riesigen Ausmaße der Verzerrung erkennen, die zur Finanz- und  Wirtschaftskrise führten.  
Frage: Was bedeutet das? 
Benedikter: Die Derivate-Blase bildete einen riesigen, von der Erde abgehobenen Schirm  „jenseits“ der Realität; die Immobilienblase dagegen staute umgekehrt das Geld  in Grund und Boden hinein, als „unterhalb“ der Realität. Beide waren  unproduktiv und nährten sich von „Mittelerde“, vom Bereich der real arbeitenden  Menschen: der Realwirtschaft. Und beide wirkten zusammen, stärkten sich  gegenseitig – auf Kosten der Realwirtschaft. Immer größere Teile des weltweit  verfügbaren Kapitals arbeiteten nicht mehr, sondern spekulierten auf reale  Arbeit. Vergessen wir nicht, dass die riesigen Spekulationssummen von  zusammengenommen zuletzt vermutlich mehr als 1000 Billionen (trillion) $ unter den  neoliberalen Bedingungen zwischen 1989 und 2007 mehrheitlich aus bloßen Wetten auf  reale sozio-ökonomische Entwicklungen bestanden – 2007 im geradezu  unglaublichen Verhältnis von (wenigstens) 1:20 zur Realwirtschaft, also einem  Teil Realwirtschaft und 20 Teilen Spekulation auf deren Entwicklung! Das sind  allerdings nur die vorsichtigsten Schätzungen. Manche Analytiker gehen für das  Jahr 2007 von einem Gesamtverhältnis zwischen Realwirtschaft und den zwei Parasitär-Wirtschaften  von 1:50 aus. Das Feld ist bislang erst anfänglich erforscht, da aufgrund der  großen Komplexität der beiden Parasitär-Wirtschaften viele Statistiken und  Zahlen erst erarbeitet werden müssen. 
Frage: Dazu liefern Sie in Ihrem Buch einen bislang so nicht vorhandenen Überblick  über die wichtigsten aktuell verfügbaren Zahlen. Darauf aufbauend zeichnen sie  das Gegenbild eines im 21. Jahrhundert möglichen „finanziellen Humanismus“,  eines (analog zu „Greenpeace“) „Financepeace“ und einer „Befreiungsfinanz“. Zu  den Möglichkeiten von „best practice“ Beispielen für einen essentielleren,  seiner Natur nach angemesseneren Gebrauch von Kapital gehört Ihrer Meinung nach  ein soziales Bank- und Finanzwesen, wie es in Deutschland zum Beispiel die GLS  Bank Bochum oder die Triodos Bank repräsentieren. Dazu gehören aber auch  regulative Maßnahmen für den globalisierten Banken- und Finanzsektor. Was  halten Sie von den Maßnahmen, die unter dem Eindruck der Finanz- und  Wirtschaftskrise 2007-2010 bis heute von der internationalen Staatengemeinschaft  getroffen wurden? 
1.  Globale Verschiebung am Überschneidungspunkt zwischen Wirtschaft und Politik
  
Benedikter: Darf ich Ihre Frage gleich am Beginn um einen Aspekt ergänzen, ohne den sie  meines Erachtens weder qualitativ noch quantitativ angemessen zu beantworten  ist?  
Frage: Gerne. 
Benedikter: Es ist zunächst wichtig zu sehen, dass die meisten regulativen Maßnahmen bisher  vor allem von der angloamerikanischen Welt, darunter führend der USA, und Europa  ausgehen, und sich mehrheitlich leider auch auf sie beschränken. Neue „global  players“ wie etwa China stiegen aus der Findung gemeinsamer Strategien relativ  früh aus. Sie unterliefen tiefergehende globale Strukturmaßnahmen eigentlich  von Anfang an, und unterlaufen sie weiterhin – und zwar in eigenem Interesse. China  benutzt seine riesigen Devisenreserven seit einigen Jahren ganz systematisch dazu,  mittels zu 100% in Staatsbesitz befindlicher Banken, die aber wie  internationale Privatgroßbanken funktionieren und handeln, weltweit strategische  Ressourcen, Rohmaterialreserven, Technologien und Know-how aufzukaufen und sich  dabei geopolitisch in zukunftsrelevanten Einflußsphären festzusetzen. Die  chinesischen Milliardeninvestitionen in kriselnde europäische Volkswirtschaften  wie Griechenland, Portugal oder Irland  oder  der seit dem dritten Quartal 2010 erneut massenhafte Aufkauf von amerikanischen  Staatsanleihen im Umfang von mehr als 23 Milliarden $   sind dafür, wie die kommenden Monate und Jahre  zeigen werden, nur Seitenmaßnahmen, um für Chinas finanz- und kapitalpolitische  Expansion mittels Investitionen etwa in Afrika  Stabilität  mittels Abhängigkeit zu schaffen. In dieses Gesamtbild gehörte zum Beispiel im  Februar 2011 auch der Griff der China Development Bank nach der durch die Krise  angeschlagenen deutschen WestLB mit 13 Milliarden $ ,  aber auch die Tatsache, dass China während (und zum Teil als direkte Folge) der  Krisenjahre die Weltbank als Kreditgeber für Entwicklungs- und Schwellenländer  überholt hat.  
Frage: Was geht hier vor? 
Benedikter: Insgesamt sehen wir: China stößt nun finanzpolitisch in die Lücken, die die  Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-10 in die politische Vorherrschaft des Westens  gerissen hat. Es versucht, diese Lücken mittels massiver Finanzspritzen strategisch  in langfristiger Perspektive für sich zu nutzen. Die Schaffung von Stabilität  mittels eines Netzes von Abhängigkeiten war in der chinesischen Geschichte  stets eine wichtige Strategie – nicht zuletzt mit finanziellen Mitteln.  Von  Umgang mit Geld im Sinn einer global nachhaltigkeitsorientierten  Finanzwirtschaft ist bei alledem natürlich keine Spur, da die gegenwärtige chinesische  Führung davon ausgeht, dass ihre Maßnahmen im Sinne eines „kapitalnutzenden Kommunismus“  ohnehin bereits das größere Gut Chinas befördern, und damit die größte  „Gemeinschaft“ der Erde bedienen.  Mit – so hoffen die autoritären Machthaber – ihren Einflussbereich stärkenden  und erweiternden Auswirkungen. 
Frage: Das bedeutet? 
Benedikter: Das bedeutet: Eine bessere Regulierung und internationale Eindämmung der in den  neoliberalen Bush-Ären (Vater und Sohn) von den USA aus - mit zumindest  passiver Unterstützung Europas - weitestgehend deregulierten internationalen  Finanzströme ist heute macht- und wirtschaftspolitisch gesehen inzwischen nicht  mehr im Interesse Chinas, wohl aber des Westens. Eine symptomatische Umkehrung  der Verhältnisse. Wenn nicht gar eine Ironie der Geschichte.  
Frage: …mit massiven globalpolitischen Implikationen! 
Benedikter: Ja. Denn vor allem die Amerikaner sind nun hin- und hergerissen. Im Rahmen der alten  Strategien globaler Machtpolitik mittels der neoliberalen laissez-faire Finanz-  und Wirtschaftspolitik erweiterten private „global players“ westliche Einflußsphären  auf andere Gebiete hinaus, indem sie ganze Branchen von Volkswirtschaften  aufkauften (wie zum Beispiel die Immobilienbranche in Thailand 1998/99-2000 ).  Sollen die USA diese Strategien nun nach der Finanzkrise wieder hochfahren, wie  von Wall Street gefordert, um China nicht das Feld globaler Expansion mit (legalen)  ökonomischen Mitteln zu überlassen? Das würde bedeuten, zu den alten Spielen eines  globalen Raubtierkapitalismus zurückzukehren, um die Vorherrschaft des Westens  zu sichern, solange es eben noch geht.  Oder  soll Amerika die Obama-Reformen weiterführen und auf eine stärkere multilaterale  Regulierung des internationalen Finanzsektors drängen, wenn auch möglicherweise  nur gemeinsam mit Europa und der angelsächsischen Welt? Die kollidierenden  Interessen zwischen den zwei voraussichtlich größten und einflußreichsten  Nationen der Welt des 21. Jahrhunderts, der nicht zufällig immer öfter bereits „G-2“  getauften  China und USA, finden in den kommenden Jahrzehnten vermutlich in den Finanz-  und Wirtschaftspolitiken einen wichtigeren Austragungsort als in den Macht- und  Militärpolitiken, weil letztere aufgrund des Rüstungsniveaus inzwischen beider  Mächte zu gefährlich sind und zu offener Konfrontation führen würden.  Diese  Hintergründe, die stark in geopolitischen Strategien verankert sind, erklären,  warum die von Obama, Merkel, Sarkozy und Co. angestrebten Reformen des Banken-  und Finanzsektors vor allem in den USA bei den Eliten auf so gemischte Gefühle stoßen  und nicht wirklich weiterkommen. Das ist auch deshalb so, weil man aus  globalpolitischen Gründen nicht sicher ist, ob man sich damit nicht selbst ins  Fleisch schneidet.  
2. Bisherige  Maßnahmen: Korrektur oder Illusion?
  
Frage: In den USA und Europa wurden bisher ja tatsächlich Maßnahmen von eher  gemischtem Wert, wenn nicht gar halbherziger Natur gesetzt.  
Benedikter: Ja. Sie haben gesehen, dass zum Beispiel der lange und mit Spannung erwartete  Untersuchungsbericht der US-Regierungskommission zur Finanz- und  Wirtschaftskrise 2007-2010 nach seiner Präsentation im Januar 2011 unüblich  schnell wieder in der Versenkung verschwunden ist. Kommissionschef  Phil Angelides sagte anlässlich der Präsentation dieses Berichts am 28. Januar  2011: „Einige an der Wall Street und in Washington, die ein Interesse am Status  Quo haben, könnten versucht sein, diese Krise aus dem kollektiven Gedächtnis zu  tilgen.“  Das ist der Fall – aber nicht nur wegen der restaurativen Bestrebungen von Wall  Street, sondern auch wegen der angeführten globalpolitischen Hintergründe.  
Frage: Was waren denn die bisher wichtigsten Maßnahmen? 
Benedikter: Zunächst einige eher populistische, wie die Begrenzung der Managergehälter durch  Obama in den USA auf dem Höhepunkt der Krise 2009, was sich aber als Makulatur erwies  und den Kern des Problems nicht berührte. Obamas Reformversuch einiger  Grundpfeiler des US-Finanzsystems vom Juli 2010 war wichtiger: er implementierte  ein Banken-Frühwarnsystem, eine bessere Kontrolle des Derivative-Marktes sowie  Maßnahmen zur Erhöhung der Transparenz und der Haftung von sogenannten Hedgefonds  und Schuldenhändlern. Außerdem wurde die Einrichtung einer staatlichen  Konsumentenschutzagentur (Consumer  Financial Protection Bureau) im Rahmen der US-Notenbank (Federal Reserve) anvisiert,  sowie die Stärkung der Rechte von Aktieninhabern bei der Festlegung von  Managergehältern. Etwa zeitgleich, im Juli 2010, schränkte das bundesdeutsche Parlament  in Berlin den Derivative-Markt unilateral ein und verbot national einige  extreme Praktiken des internationalen Hochrisiko-Sektors wie etwa sogenannte  Leerverkäufe. Der G-20 Gipfel vom Juni 2010 in Toronto brachte eine - wenn auch  nicht verpflichtende - Erklärung, dass die überbordenden nationalen  Staatsdefizite eingeschränkt und bis 2013 im Durchschnitt halbiert werden  sollen. Richtungsweisend war m. E. auch der Grundsatzentscheid des deutschen  Bundesgerichtshofes im März 2011, dass Banken ihre Kunden besser über riskante  Geldanlagen informieren und zur Not Rückerstattungs- bzw. Schadenersatzklagen  in Kauf nehmen müssen.  
Frage: Das alles scheint positiv. 
Benedikter: Durchaus. Gleichzeitig konnten aber wichtige, wenn  nicht gar für die Zukunft ausschlaggebende Maßnahmen, die unter dem Eindruck der  Finanzkrise diskutiert wurden, nicht verwirklicht werden. Dazu gehört die  Einführung einer internationalen Bankensteuer auf Hochrisikogeschäfte sowie  eine verpflichtende Bankenabgabe zur Vorsorge gegen künftige Krisen. Sie wurden  hauptsächlich von Deutschland und Frankreich vorgeschlagen, scheiterten aber am  Widerstand der USA, Großbritanniens und Chinas. Insgesamt gesehen bleiben die  bisherigen Reformanstrengungen ambivalent. Sie führen zwar zu einer gewissen  Stabilisierung des bisherigen Systems, verändern dieses System aber nicht im  Kern. Daher bleibt ihr tatsächlicher Innovationswert bislang unklar. 
Frage: Inwiefern? 
Benedikter: Es ist in der  internationalen finanz- und wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion derzeit eine  offene Frage, ob die bisher getroffenen Maßnahmen eine wirkliche Veränderung jenes  globalisierten Finanzsystems darstellen, das sich in der Krise 2007-2010 als  bankrott erwiesen hat, oder ob sie ironischerweise nur dieses bisherige, alte  System gerettet und indirekt sogar gestärkt haben. So stehen die Finanzexperten  Ian Bremmer und Nouriel Roubini mit ihrer Meinung nicht allein, dass „es sehr  unwahrscheinlich ist, dass der (bisherige) Prozess, eine neue internationale  Finanzarchitektur zu schaffen, eine Struktur schaffen kann, die mit  irgendwelchen langfristig glaubwürdigen Bauvorschriften im Einklang steht.“   
Frage: Wo liegt das  Hauptproblem? 
Benedikter: Wir werden insbesondere  sehen müssen, wie sich das Verhältnis zwischen Realwirtschaft und  Spekulationswirtschaften entwickeln wird - also zwischen dem konkret produktiven  Zentrum der Wirtschaft (einschließlich seiner Voraussetzungen in der Finanzwirtschaft)  und den zwei „Wasserköpfen“, die sich zwischen 1989 und 2007 oberhalb (Derivate-Blase) und unterhalb (Immobilienblase) der  Realwirtschaft aufgebaut haben. Wurden diese „Parasitär-Wirtschaften“ wirklich  trockengelegt, so wie es versprochen wurde, und wurde ein Großteil des  abgedrifteten Kapitals wirklich in die Realwirtschaft zurückgeführt? Oder war  das nur eine Hoffnung, ein Traum auf Verbesserung in einer bestimmten Lage  unter bestimmen Bedingungen? Das werden wir erst noch zu sehen haben, und zwar sehr  genau, empirisch und ohne ideologische Scheuklappen. 
Frage: Sie scheinen - schon  in der Formulierung dieser Aussagen - hier eher skeptisch zu sein. Sie legen  auch in Ihrem Buch zumindest indirekt nahe, dass die angestrebten Ziele einer  Neuregulierung nicht erreicht wurden. Was bedeutet das aus Ihrer Sicht für die  Zukunft? 
Benedikter: Es bedeutet: Das  internationale Banken- und Finanzsystem bleibt auch nach den bisher getroffenen  Maßnahmen relativ instabil und gefährdet, in neue Krisen zu geraten.  
Frage: Zum Beispiel? 
Benedikter: Es gibt Hinweise  darauf, dass die weltweit größten Banken nach der Krise und den folgenden Maßnahmen  gefährdeter sind als vor der Krise. Dies nicht zuletzt deshalb, weil  zweieinhalb Jahre nach dem Kollaps der „Lehmann Brothers“ im September 2008 viele  der global größten Banken weiter gewachsen sind, statt - wie von der Politik  gefordert - „gesundzuschrumpfen“.  Sie  sind nun größer und instabiler als zuvor. In der ersten  Hälfte 2010 kollabierten weitere 86 US-Banken, und der „Stresstest“, den die Europäische  Zentralbank in Zusammenarbeit mit der Europäischen Bankenaufsicht (CEBS) im  Juli 2010 ausführte, führte zum Versagen von sieben Banken.  Das  sind Hinweise darauf, dass ungeachtet aller Anstrengungen keine ausreichende  Nachhaltigkeit des Finanzsektors in Sicht ist. Außerdem scheinen viele Banken  bereits wieder zu den alten Praktiken von Intransparenz, Spekulation, Hochrisiko  und schlechter Kundenberatung zurückgekehrt sein.  Nicht  zu Unrecht hat der deutsche Bundespräsident Christian Wulff vor rund  1000 Finanzvertretern auf dem deutschen Bankentag in Berlin Ende März 2011  erklärt, er glaube nicht an einen Lerneffekt bei den Banken, da diese „zu den  alten Verhaltenweisen zurückgekehrt“ seien, immer noch zu wenig Verantwortung  für die Gesellschaft übernähmen und bislang nichts aus der Krise gelernt hätten.  Dass  eine der großen internationalen Banken, die Deutsche Bank, im August 2010 erklärte,  bis auf weiteres nicht in erneuerbare Energien in den USA investieren zu  wollen, weil es weiterhin „dauerhafte Sorgen“ über eine „unzureichende  Nachhaltigkeit“ des US-Finanzsektors und damit auch der US-Wirtschaft gebe,  trägt auch nicht dazu bei, von einer dauerhaften Lösung der Probleme  auszugehen.   
Frage: Auf der anderen Seite hat das geplante Rahmenabkommen Basel III des Baseler  Ausschusses für Bankenaufsicht an der Bank für Internationalen  Zahlungsausgleich  zur  Verminderung des Krisenrisikos, das seit Ende 2010 diskutiert wird, doch auch einige  technisch sinnvolle Maßnahmen vorgeschlagen? 
Benedikter: Meines Erachtens ja. Unter diesen Maßnahmen, die in den kommenden Jahren  umgesetzt werden sollen, sind u.a. die Erhöhung des Eigen- und des Kernkapitals  der Banken, die Einführung eines Kapitalerhaltungspuffers und einer  Inflationsreserve, sowie die Begrenzung der Haftung der öffentlichen Hand.  Allerdings  rühren auch diese Maßnahmen nicht an den Kern des Problems: An die bisherige  Kultur, die „forma mentis“ des Umgangs mit Kapital und die Grundmechanismen des  internationalen Finanzsystems – also an das finanzpolitische Paradigma, das  weitgehend unverändert weiterbesteht.  
Frage: Das heißt? 
Benedikter: Die meisten Maßnahmen erfolgten innerhalb des Systems, nicht als Korrekturen  des Systems. Im Grunde ist substantiell bisher sehr wenig geschehen, und die  Lehren aus der Krise wurden eher im Feld des Denkens über Wirtschaft und Finanz  gezogen, als in der Praxis. Insofern ist ein Haupteffekt der Krise bisher eher  das Anwachsen eines Gegensatzes zwischen Denken und Handeln in der  Finanzwirtschaft. Neue Institute von Nobelpreisträgern wie zum Beispiel das  „Institute For A New Economic Thinking“ New York  von  Joseph Stieglitz und Ian Golding oder akademisch anerkannte Initiativen wie die  „Bruce Initiative on Rethinking Capitalism“ an der Universität von Kalifornien  in Santa Cruz  betrachten das im den vergangenen Jahrzehnten dominierende Wirtschaftsdenken  als gescheitert. Sie versuchen das Denken über Finanz, Kapital und Ökonomie zu  öffnen und sind nun im Gegensatz zu den vergangenen Jahrzehnten auch erstmals bereit,  alternative Ansätze wie das soziale Bank- und Finanzwesen oder das sogenannte „Socially  Responsible Investing“ (SRI)  ernsthaft einzubeziehen.  
Frage: Bedeutet das, dass wir nun eine bislang unbekannte Vielheit und Pluralität von  Ansätzen haben, Wirtschaft und Finanz zu denken? Das wäre doch im Prinzip ein  positiver Effekt der Krise.  
Benedikter: Ja, durchaus. Aber die Auswirkungen von Denken sind stets zeitverzögert und  werden - wenn überhaupt - erst in einigen Jahren in der Realität sichtbar und  spürbar werden, nämlich in einer neuen Generation von Finanzakteuren und Wirtschaftstreibenden.  
Frage: Was wären in dieser Lage Alternativen oder zumindest sinnvolle Ergänzungen zu  regulatorischen Maßnahmen? 
Benedikter: Nicht ganz zu Unrecht hat der Harvard-Wirtschaftsgeschichte-Professor Niall  Ferguson im Gefolge der Krise erklärt, die Zukunft liege weniger in neuen  Regulativen, weil diese in der globalisierten Welt nicht dauerhaft realistisch  seien, sondern vielmehr in einem neuen, verpflichtenden „hippokratischen Eid“  für Absolventen der Wirtschafts- und Finanzwissenschaften.  Damit  könnte man das gesamte Feld des Umgangs mit Geld und Kapital an seiner Wurzel ethischer  machen, und den Generationenwandel für einen finanziellen Wandel „von unten“  nutzen. Aber auch das ist letztlich natürlich ein ambivalentes Statement, weil  es indirekt nur erneut die regulatorische Veränderungsresistenz des globalen  Finanzsystems anzeigt. 
3. Neue Blasen  – und ihre Folgen
  
Frage: Wenn aber dieses System so resistent ist – waren dann die Rettungsaktionen der  internationalen Staatengemeinschaft für die Banken nicht nur Makulatur?  
Benedikter: Möglicherweise. Der italienische Finanzminister Giulio Tremonti hat auf dem Pariser  Kongreß „Neue Welt, neuer Kapitalismus“ im Januar 2011 etwas meines Erachtens sehr  Richtiges gesagt: „Die Krise ist nicht vorbei. Wir haben die Banken mit  Steuergeldern gerettet, aber mit ihnen auch die alte rücksichtslose Spekulation.  Das Ergebnis ist, dass wir in gewisser Weise zum Ausgangspunkt zurückgekehrt  sind. Es ist wie ein Bumerang. Oder vielleicht mit einer besseren Analogie  ausgedrückt, wie in einem Videospiel: je mehr Monster man erschießt, umso mehr  neue tauchen auf.“   
Frage: Wenn das  so ist - stehen dann nicht notgedrungen neue Krisen  bevor? Und wenn ja, welcher Art? 
Benedikter: Das ist im Einzelnen schwer vorherzusagen. Dass sich aber derzeit – nach dem  Zusammenbruch der Derivate- und Immobilienblasen – bereits neue Blasen bilden, weil  das Spekulationskapital auf neue Felder ausweicht, um das parasitäre „Wetten-Spiel“  auf die Realwirtschaft unverändert nach den bisherigen Regeln weiterzuspielen, ist  unbestritten. Die nächste Großblase, die zur Destabilisierung beitragen wird, wird  eine Nahrungsmittel-Blase sein. Wie der deutsche Süßwaren-Hersteller Alfred T.  Ritter im Dezember 2010 analysierte ,  stürzen sich heute erhebliche Teile der internationalen Spekulationswirtschaft  auf den globalen Nahrungsmittelhandel, um dort mittels Spekulation die Preise  künstlich hochzutreiben, genauso wie sie es vorher mit dem Derivate- und Wohnungsmarkt  taten. Je mehr Kapital man dort künstlich hineintreibt, desto mehr kann man mit  dem Auf und Ab an den Börsen „spielen“ – genauso wie vorher mit den Derivaten  und den Immobilien, nur jetzt eben mit einem neuen Spielgegenstand. 
Frage: Warum gerade Nahrungsmittel? 
Benedikter: Weil es sich bei Nahrungsmitteln, ebenso wie beim Wohnungsmarkt, um ein  Grundbedürfnis des menschlichen Lebens handelt. Gerade für die  rücksichtslosesten Spekulanten sind menschliche Grundbedürfnisse immer das  erfolgversprechendste.  
Frage: Das ist ein tragisches Paradoxon. 
Benedikter: Ja, aber es ist so. Die Menschen müssen immer essen, also kann hier aus Sicht  der Spekulanten nie allzu viel verloren gehen. Zudem  wächst die Anzahl der Menschen weltweit sehr schnell weiter. Bedenken Sie, dass  sich die Menschheit allein seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts vervierfacht  hat.  Schon in wenigen Jahren werden mehr als 8 Milliarden Menschen die Erde  bevölkern. Wenn nicht ein Teil von ihnen u.a. im Gefolge der neuen Mond- und  Marsmissionen von China, den USA, Russland und Indien schrittweise in den Raum  auswandert, werden es bereits 2050 mehr als 10 Milliarden sein.  Das wird die Erde technologischen und nachhaltigkeitsorientierten  Anbauverbesserungen unweigerlich an ihre Nahrungsgrenzen führen. Die  Nahrungsmittelproduktion wird künftig immer umkämpfter werden, einfach weil es  immer mehr Esser gibt und die Anbauflächen nicht größer werden. Dazu kommt der  Klimawandel, der, wenn er ungebremst weitergeht, für eine Versteppung und  Verwüstung ehemals fruchtbarer Gebiete sorgen wird, und damit zu einem Abnehmen  der verfügbaren Anbaufläche. Wenn der Derivate- und Wohnungsmarkt also – wie  jetzt nach der Krise der Fall – für einige Zeit ausgereizt ist, dann geht das Kapital  mit aller Macht in den nächsten Spekulationsmarkt hinein. Und vergessen wir  nicht: Von einer Regulierung der internationalen Rohstoffbörsen sind wir heute noch  viel weiter entfernt als in jedem anderen Bereich.   
Frage: Ein  Beispiel? 
Benedikter: Im Juli 2010  kaufte der britische Spekulant Anthony Ward 7% der Weltkakaoernte. Der  Rohstoffpreis legte in kürzester Zeit um 25% zu. Daraufhin folgten sofort  riesige Mengen an Spekulationskapital, um in ebenso kurzer Zeit ebenso  gigantische Profite ohne Verpflichtung zu eigener Produktion und Arbeit zu  machen. Und das war ganz sicher erst der Anfang. Wie Alfred Ritter sagte: „Die  steigende Nachfrage nach Rohstoffen in den Schwellenländern - darunter Nüsse,  Milch und Getreide - wird die Achterbahnfahrt der Preise verstärken. Wird  Lebensmittelherstellung also ein Geschäft für Zocker? Das Geschäft wird  jedenfalls hochriskant. Wetter und Missernten spielen heute nur noch eine  Nebenrolle. Alles hängt davon ab, ob die Spekulanten gerade in die Märkte hinein-  oder herausgehen.“  
Frage: Was sind  die Folgen? 
Benedikter: Sie sind  vielfältig. Ich nenne Ihnen hier zunächst nur eine. Was bisher noch viel zu  wenig herausgearbeitet wurde, ist der ganz entscheidende Zusammenhang zwischen  der neuen Nahrungsmittelblase, die sich seit Sommer 2010 auftut, und den  politischen Umbrüchen in Nordafrika und dem Nahen Osten in den ersten Monaten 2011.  Letztere sind die direkte und unmittelbare Folge der neuen Blase. Zuerst gingen  Ward und andere „ernsthaft“ in den Nahrungsmittelbereich hinein, dann folgten  ihnen angesichts der riesigen kurzfristigen Profite große Mengen an  Spekulationskapital. Die Blase dehnte sich rasch von Kakao auf andere  Schlüsselressourcen wie etwa Weizen, Milch, Kaffee und Früchte aus. Das führte  zu einer allgemeinen, raschen Verteuerung von Grundnahrungsmitteln ab Spätsommer  2010. Dies traf zuerst wie immer vor allem die Schwächsten, nämlich die Armen  in Entwicklungs- und Schwellenländern. Es führte dazu, dass sie die  Grundnahrungsmittel kaum mehr bezahlen konnten, und dass dieser Anstieg ihre  gesamte Lebensführung gefährdete. Eben davon gingen dann Anfang 2011 die Volksaufstände  in Nordafrika aus. Sie waren zunächst eine Revolte gegen die Verteuerung der  Nahrungsmittel, und wurden erst davon ausgehend zu einer Jugendrevolte gegen  die herrschenden autoritären und diktatorischen Regimes, und schliesslich zu  breiten politischen Revolten.   
Frage: Hatte  die neue Nahrungsmittelblase also paradoxerweise indirekt auch etwas Gutes,  indem sie potentiell demokratische Revolten gegen unterdrückerische Regimes  auslöste?  
Benedikter: Es ist meines  Erachtens zweifelhaft, den Teufel mit dem Beelzebub aufzutreiben. Die Wirkungen  der neuen Blasen auf Regional- und Globalpolitiken sind voraussichtlich erst am  Anfang. Die Nahrungsmittelblase wird in den kommenden Jahren für weitere  globalpolitische Erschütterungen sorgen. Wie die Welternährungsorganisation der  Vereinten Nationen FAO berichtet, sind die Weltmarktpreise der für viele  Gebiete lebenswichtigen, grundlegenden Getreidesorten allein zwischen Februar  2010 und Februar 2011 um mindestens 70% gestiegen.  Das hat zwar auch mit steigenden Ölpreisen zu tun, zunehmend aber mit der neuen  Lebensmittelblase. Daher sollte die Politik sie - aus den Ursachen der Finanz-  und Wirtschaftskrise 2007-10 lernend - von Anfang an ernster nehmen, als sie  die Immobilien- und Derivate-Blasen nahm. Sie sollte dieser neuen Blase von  Anfang an entschieden und in internationaler Kooperation entgegenwirken. 
Frage: Was  zeigt sich an diesen Vorgängen grundsätzlich für die Perspektiven der  Globalisierung, über den Tagesanlass hinaus? 
Benedikter: Es zeigt  unter anderem, dass das Spekulationswesen, wie zuletzt zum Beispiel Cesare  Casarino von der Universität Minnesota überzeugend rekonstruiert hat, in gewisser  Weise im ideengeschichtlichen Wesen der modernen, spekulativen Vernunft  begründet ist.  Dass Spekulation der Geist der Moderne, und dass der Geist der Moderne spekulativ  ist: dass die kapitalistische Moderne ihrem Wesen nach Zukunft antizipiert  mittels Erwartungen, die als Realität ausgegeben werden, bevor sie existieren,  die sich dann selbstreferentiell und zyklisch fortbilden in einem zum Teil  chaotischen und hoch riskanten „trial and error“ Prozess.  Die  Geschichte des ökonomischen Denkens der vergangenen zwei Jahrhunderte zeigt,  dass zwischen dem spekulativen Geist der (westlichen) Moderne und der  ökonomischen und finanziellen Zyklik ein enger Zusammenhang besteht, und zwar  insbesondere in Bezug auf die Nutzung von Kapital und den Umgang mit Geld. Das  gilt sowohl individuell wie nationalökonomisch, wenn auch natürlich mit  strukturellen und dynamischen Unterschieden.  Daher  ist es nicht leicht, aus dem unbewußt zugrundeliegenden, im Ansatz zugleich  produktiven wie zerstörerischen Umgang des spekulativen Geistes mit Kapitel herauszukommen  - auch nicht im Gefolge der numerisch schlimmsten Finanzkrise aller Zeiten.  
Frage: Was  noch? 
Benedikter: Die  bisherige Nach-Krisenphase zeigt ausserdem, daß das Spekulationswesen zunehmend  globale politische Valenzen entfaltet -   nicht zuletzt wegen seiner kommunikationstechnologischen Aufrüstung, die  es mittels „intelligenten“ Mobiltelefonen, Webcams  und Internet einerseits immer stärker in Echtzeit ermöglicht, und andererseits  in Echtzeit globalisiert. Dadurch wird der Geist der Spekulation zu einer  ständigen Präsenz „realer Gegenwart“  -  das heißt zu einer gleichsam durchsichtigen Glocke, die alles überwölbt und  einhüllt. Da die technologische Entwicklung nicht rückgängig gemacht werden  kann, ist eine große Frage, wie wir damit in Zukunft umgehen wollen. Diese  Frage ist bislang weitgehend ungelöst. Sie wurde bislang noch nicht einmal  ausreichend thematisiert.  
4. USA und  Zentraleuropa: Unterschiedliche Entwicklungen nach der Finanzkrise
  
Frage: Man hat im Rückblick auf die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-10 und ihre  Folgen den Eindruck, dass die ökonomischen Leitmächte Europas trotz der Schwierigkeiten  von Griechenland, Irland und Portugal schneller über die Krise hinausgekommen sind  als die USA; zumindest betrifft das Deutschland und seine Nachbarn. Was sind  die Gründe dafür? 
Benedikter: Zentraleuropa hat sich trotz erheblicher Probleme im Euro-Raum objektiv durchaus  schneller erholt. Deutschland hatte im zweiten Quartal 2010 die beste  Wirtschaftskonjunktur seit 20 Jahren.  Österreich  hat ebenfalls sehr gute Daten.  
Frage: Die Frage ist, warum.  
Benedikter: Ich sehe einen Hauptunterschied zwischen den heutigen USA und Zentraleuropa in  den finanziellen und ökonomischen Strukturgrundlagen - also indirekt auch in den  langfristigen systemischen Perspektiven. Die unterschiedlichen Grundlagen haben  aber viele wichtige US-Analytiker wie Fareed Zakaria  oder  Bernhard J. Cohen  nicht  ausreichend verstanden, die zur Bewertung der Strukturstärke meist nur  Wirtschaftsleistung, Währungsstärke und Staatsverschuldung heranziehen, aber nicht  berücksichtigen, dass statistisch gesehen heute jeder US-Amerikaner pro Kopf etwa  35.000 Dollar Privatschulden hat (etwa 140.000 $ pro Haushalt) ,  jeder Deutsche aber etwa 58.000 Euro Privatersparnisse.  Ein  Unterschied zwischen den USA und Deutschland ist also: Die USA haben exzessive  National- und Privatschulden  (einschliesslich Bundesstaaten, Städte und Gemeinden), während Deutschland zwar  fast ebenso hohe nationale Schulden pro Kopf hat (einschliesslich Bundesländer  und Gemeinden), aber über ganz andere durchschnittliche Privatschulden verfügt.  Letzteres ist nicht zuletzt Ausdruck unterschiedlicher Finanzkulturen, das  heisst der unterschiedlichen kulturellen Grundgewohnheiten, mit Geld umzugehen.  
Frage: Und? 
Benedikter: Dazu kommt die Geldmengenentwicklung, die in den USA aufgrund der bekennenden  Inflationsgläubigkeit der US Federal Reserve Bank  in den vergangenen Jahren im Vergleich zu Europa überproportional gestiegen  ist. Auch wenn Zentraleuropa - in eigenem Interesse - einen Teil der Lasten des  Euro tragen wird müssen, was glauben Sie: Machen diese Faktoren einen  Unterschied in der sozio-ökonomischen Gesamtsolidität einer Gesellschaft, oder  (mit den meisten heute meinungsführenden US-Analytikern) emphatischer ausgedrückt,  einer „Zivilisation“ , aus,  oder nicht?  
Frage: Offenbar ja. Sie stellen hier ja nur eine rhetorische Frage? 
Benedikter: Trotzdem tun viele US-Analytiker derzeit so, als sei Europa ganz hart an der  Kante des Abgrunds gerade noch einmal davongekommen, während die USA aufgrund  ihrer flexibleren und schnelleren Wirtschaftszyklen trotz zahlreicher  Angriffsflächen in ihrem performativen, dynamischen Prozess-Zentrum angeblich nie  wirklich in Gefahr waren.  
Frage: Warum diese (Miss-)Deutung? 
Benedikter: Das hat damit zu tun, dass die meisten Amerikaner, einschliesslich der  Intellektuellen, vor dem Hintergrund ihrer ureigensten Kultur und Lebensform nicht  verstehen können, wie man ein Leben lang sparen kann, statt das Geld ständig auszugeben  - und zwar noch bevor man es verdient  hat. Die gesamte US-Kultur ist im Kern auf einem antizipativen Umgang mit Geld,  also auf Schulden aufgebaut.  
Frage: Inwiefern? 
Benedikter: Schulden sind ein zirkulärer Prozeß des Vorwegnehmens und Zurückgebens. Dieser  Prozeß wird in den USA als der Charakter der Zeitlichkeit selbst erlebt, also  als gewissermassen natürlicher Prozeß des Lebens an sich. Die Schuldenkultur  ist im innersten Zentrum Amerikas verankert, ja bildet die ureigenste Identität  Amerikas an grundlegender Stelle mit aus. Sie hat ihre spezifischen national-  und (seit mindestens vier Jahrzehnten, d.h. seit der Ölkrise der 1970er Jahre)  auch globalökonomischen Vor- und Nachteile. Wie man sie auch bewertet, sie ist  von zentraler Bedeutung. Und bevor Europa die Andersheit dieser Kultur nicht besser  als bisher versteht, wird es schwierig sein, zu wirklich tiefergehenden  gemeinsamen regulatorischen Maßnahmen des Finanz- und Wirtschaftssektors zu  kommen.  
Frage: Warum? 
Benedikter: Weil praktisch alle wichtigen Reformmaßnahmen des internationalen Finanzsystems  in Zukunft die stärkere Berücksichtigung der bis in die Grundpfeiler hinein unterschiedlichen  Geld- und Finanzkulturen zwischen den USA und Europa voraussetzen. Andernfalls  werden die USA – wie zuletzt bei der Frage der internationalen Bankenvorsorgeabgabe,  der globalen Transaktionssteuer auf Risikogeschäfte oder der Inflationsfrage –  weiterhin nicht mit Europa mitgehen. Ein solches Verständnis hilft dann  umgekehrt aber auch, das Eigene Europas  in den USA besser verständlich und in seinen in vielerlei Hinsicht andersartigen  Argumentationsformen akzeptabel zu machen.        
Frage: Was wäre nötig, um ein solches Verständnis aufzubauen und komplexitätsadäquat  zu artikulieren? 
Benedikter: Dazu gehört meiner Meinung nach an zentraler Stelle, dass wir endlich den  kulturellen Kern der Finanzkrise verstehen. Das ist bisher noch viel zu wenig  geschehen. Während man in den Sozialwissenschaften seit den 1990er Jahren den  Aufstieg von Kultur zum politischen und kontextpolitischen Faktor immer besser verstanden  und anerkannt hat , bleibt  die Rolle von Kultur als finanzpolitischer und ökonomischer Faktor noch immer stark  unterbewertet und auch unterbelichtet. Vergessen wir nicht, dass die  Finanzkrise von den USA ausging – und zwar weniger von deren  Wirtschaftsleistung im engeren Sinn, sondern vielmehr von deren Grundverankerung  in einer Schuldenkultur. Das wird bisher in Europa noch immer unterschätzt, ist  aber wahrscheinlich mindestens ebenso wichtig wie die stringent ökonomische  oder finanztechnische Dimension. 
Frage: Nämlich? 
Benedikter: Die ökonomische und finanztechnische Dimension Amerikas sind ohne die  kulturelle Dimension nicht wirklich verstehbar, da sie in ihren Ursachen und in  ihrer „Tiefe“ aufs engste mit dieser zusammenhängen. Hier ist die  sozio-ökonomische Grundlagendifferenz zwischen den USA und Europa zugleich eine  Habitus-Differenz. Diese Differenz besteht darin, dass die gesamte US-Kultur,  ja die US-Zivilisation als solche auf  einer bestimmten Art des „Zukunft vorwegnehmenden“ Umgangs mit Geld begründet  ist. Vergessen wir nicht: Kapital ist in der Moderne ja tatsächlich die  zentrale zukunftsantizipierende soziale Kraft. Es ist genau besehen seinem  Wesen nach nichts anderes als die Vorwegnahme und Ermöglichung von Zukunft in der Gegenwart!  Diese Einsicht und die daraus resultierende wechselseitige  Durchdringung zwischen Alltagskultur, Kapital, Geld und Geist ist in den USA  viel unmittelbarer, tiefgehender und umfassender ausgeprägt als in Europa.  
Frage: Inwiefern?    
5 Die Gründe: Unterschiedliche  atlantische Finanzkulturen in Wechselwirkung mit unterschiedlichen  Gesellschaftsstrukturen
  
Benedikter: Blicken wir zurück: In der neoliberalen Epoche zwischen 1989 und 2007 lag das  Gravitationszentrum der weltweiten Kapitalströme in den USA und generell in der  anglo-amerikanischen Welt (Wall Street und London). Deren Usancen haben  praktisch alle anderen Weltregionen nachgeahmt. Warum aber konnte die Krise  gerade in den USA ausbrechen? Und warum ist sie dort bis heute viel  hartnäckiger vorhanden? Hat das möglicherweise nicht nur einen Wirtschafts-,  sondern einen „größeren“ Kulturgrund? Das sollten wir uns endlich ernsthafter  als bisher fragen. 
Frage: Einverstanden. Geben Sie uns Antworten. 
Benedikter: Es ist dies: In den USA besteht - wenigstens typologisch und heuristisch besehen  - traditionell eine ganz andere Finanzkultur, und damit ein ganz anderer  sozio-ökonomischer Gesamtmechanismus als in Europa. Die amerikanischen Banken  und Finanzinstitutionen geben im Vergleich mit ihren Pendants in Europa systemisch  weit stärker Personalkredite als Realkredite.    Vereinfachend  gesagt gilt: In den USA erhält man zuerst einen Kredit - und zwar einen  anteilsmässig meist erheblich höheren als in Europa - ohne Sicherheit, rein im  Vertrauen auf eine zukünftig zu erbringende Arbeitsleistung. Dann kauft man mit  dem Kredit zum Beispiel ein Auto, dann arbeitet man mit dem Auto, dann zahlt  man mit dem Ertrag den Kredit oder zumindest dessen Zinsen zurück. Dabei werden  noch während der Rückzahlung der alten Ausstände üblicherweise ständig neue  Schulden gemacht. Es ist ein ständiger Kreislauf von Schulden zurückzahlen und gleichzeitig  neue Schulden machen.  
Frage: Hat dieser Kreislauf denn ein Ziel? Ist er auf etwas Bestimmtes hin  ausgerichtet? 
Benedikter: Nein. Der Kreislauf ist auf kein besonderes Ziel oder Endpunkt hin  ausgerichtet. Er ist vielmehr eine Lebensform, eine Seinsform, ein natürlicher  Zustand. Er zielt immer, und unablässig immer wieder von neuem, auf eine noch  nicht vorhandene Zukunft hin. Diese Zukunft wird als realer als die Gegenwart  erlebt, weil in ihr der Fokus des Strebens und der Aufmerksamkeit liegt. In  Europa, einschliesslich Deutschland, dagegen ist die Tendenz kulturell eher  umgekehrt: Zuerst beweist man die Kreditwürdigkeit oder verfügt über ein Grundkapital  oder irgendetwas materiell Verfügbares, dann kauft man darauf aufbauend das Auto,  usw. Es geht in Europa also tendenziell um eine Sicherheit, eine Absicherung,  die aus der Vergangenheit herkommt. Das, was da ist, ist in Europa das  unmittelbar Reale, nicht primär die Zukunft. 
Frage: Das heisst? 
Benedikter: Drei Aspekte: Ausbildung oder Bildung, ein kontinuierliches Einkommen mittels  Arbeit und eine feste Anstellung zählen in den USA weit mehr als in Europa. Sie  allein sind meist ausreichend als „Sicherheit“, da sie Produktivität als in die  Gegenwart rückwirkendes „Zukunftskapital“ wahrscheinlich machen. Alle drei sind  eher Potentialitäten als Realitäten (oder, aristotelisch gesprochen, „Aktualisationen“ ).  In Europa dagegen muss aus einer Potentialität tendenziell schon etwas „Zählbares“,  das heisst eine „Aktualisation“ hervorgegangen sein, um ausreichende Kreditwürdigkeit  zu generieren. Stark vereinfacht und typologisierend gesagt sind die USA systemisch  (und wenn Sie so wollen „zivilisatorisch“) im Kern eher eine Kultur der  Personalkredite - und damit eine Kultur der „subjektiven“ Potentialität in die  Zukunft hinein. Europa dagegen ist, wiederum stark verkürzt gesagt, eher eine  Kultur der Realkredite - und damit der Sicherheit des Vergangenen, der  Absicherung durch das bereits Gewordene, durch das „objektiv“ Vergangene. In  den USA wird die Potentialität des Einzelnen gewissermaßen unmittelbar  angesprochen und zur direkten Aktion in die Zukunft hinein freigesetzt, wenn  sie vielleicht auch noch nicht wirklich bereit oder „gereift“ dafür ist. In  Europa dagegen wird sozusagen erst das Reife zukunftswürdig. 
Frage: Das bedeutet?  
Benedikter: In Europa erfolgt ein behutsamer Aufbau, aufbauend auf die Vergangenheit. In  den USA dagegen antizipiere ich ständig Zukunft mittels Schulden, und daher ist  die Gegenwart immer schon zu einem sehr hohen Maß durchdrungen und erfüllt, ja geradezu  besetzt von der Zukunft. In Europa baue ich mir zuerst eine Vergangenheit auf  mittels Ersparnissen, um mich zu befähigen, darauf aufbauend erst eine  Gegenwart zu gewinnen. 
Roland Benedikter, Dott. Dr. Dr. Dr., ist Europäischer Stiftungsprofessor für Politische und Kultur-Soziologie an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara sowie Visiting Scholar / Research Affiliate 2009-13 am Europa Zentrum der Stanford Universität, USA. U.a. Mitarbeiter an Ernst Ulrich von Weizsäcker‘s Bericht an den Club of Rome 2003: „Grenzen der Privatisierung“ - alle drei Fassungen: Englisch 2005, Deutsch 2006, Chinesisch 2007 -, Autor und Herausgeber von 14 Büchern, Autor von mehr als 100 Einzelpublikationen in Fachzeitschriften des europäischen und anglo-amerikanischen Raums, 2006-2011 Founding External Advisor und External Examiner des Studiengangs „Social Banking and Social Finance“ der Universität Plymouth in Zusammenarbeit mit dem Institute for Social Banking Bochum. Autorisierte Internetseiten: http://europe.stanford.edu/people/rolandbenedikter/ und http://en.wikipedia.org/wiki/Roland_Benedikter. Kontakt: rben@stanford.edu oder r.benedikter@orfaleacenter.ucsb.edu.  
Das komplette Interview mit Fußnoten und links zum download als .pdf 
  
 
Interview mit Roland Benedikter 
Die Fragen stellte Prof. Dr. habil. Christoph  Strawe, Stuttgart. 
Roland  Benedikter, Dott. Dr. Dr. Dr., ist Europäischer Stiftungsprofessor  für Politische und Kultur-Soziologie an der Universität von Kalifornien in  Santa Barbara sowie Visiting Scholar / Research Affiliate 2009-13 am Europa  Zentrum der Stanford Universität, USA. 
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