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Ein Gedicht geht um in Deutschland - Und es sagt mehr über die Leser als über den angeblichen Autor Tucholsky oder gar die Kreditkrise

Ein Gedicht geht um in Deutschland

Liebe Freundinnen und Freunde,

ein Gedicht geht um in Deutschland, das viel über uns aber wenig über die Finanzkrise aussagt. Wir, damit meine ich diejenigen, die der Finanzwelt unsere Zukunft nicht allein überlassen wollen und unter der neo-liberalen Marktreligion der letzten 10 Jahre gesehen hat, wie die großen "B"s (Bush, Blair, Brown, Berlusconi, Barroso sowie "Bröder" und "Bohl") unsere Kultur auf den Glauben an das Geld reduziert haben.

Das Gedicht sagt über uns, dass wir leichtgläubig, wirtschaftlich wenig gebildet, von der Presse im Stich gelassen uns an jeden Fetzen Hoffnung hängen, dass unsere heutigen Probleme die Alten seien und man es immer schon gewusst habe.

Um es vorweg zu sagen: Das herumgeisternde Gedicht ohne Titel, dessen Herkunft der Sudelblog.de seit längerem enttarnt hatte, ist nicht von Tucholsky sondern von einem eher dem rechtsextremen Lager (Süddt. Ztg) zuzuordnenden Kapitalismuskritiker: (siehe unten) "Die Entstehung einer Gedicht-Legende". Wir sollten nicht vergessen, dass auch die NSDAP im Parteiprogramm "wider die Zinsknechtschaft" antrat und das "jüdische Kapital" für die Misere der "arischen Rasse" verantwortlich machte.

In einem Brief an die Verbreiter haben wir vor zwei Wochen geschrieben: "Hier ist größte Vorsicht geboten, nicht alles, was schön wäre ist auch wahr. Tucholsky hat in der Tat besser gedichtet. Im Stil ist es eher Wilhelm Busch. Daher als Anlage ein Artikel im Sudelblog. Auch inhaltlich bleibt es sehr an der Oberfläche, weil es nur die (in der Tat komischen) Problemlösungen, nicht aber das Problem (das vermehrte Auftauchen finanzieller Risiken) nicht in den Griff bekommt."

Inzwischen ist mit großer Verspätung auch die Presse und zwar die Frankfurter Rundschau und erst jetzt auch die SZ darauf eingegangen aber wie der Sudelblog argwöhnte, der Strom der Identifikanten reißt nicht ab.

Was stimmt an dem Gedicht nicht?

Das Gedicht spiegelt die Ohnmacht der Kritiker des aktuellen Finanzmarktes wieder, weil sie die Argumente der Finanzmarktjongleure auf links gedreht weitertragen.

  1. Die Finanzmarktkrise ist hier eine Krise der geprellten Anleger (Börse, Wertpapiere, Leerverkäufe et) und nicht der Kreditnehmer (Subprime, Hypotheken, Zwangsversteigerungen etc)

  2. Die Börsenkurse sind ein Naturereignis. Dort werden nicht vorhandene Werte gehandelt statt Börse als missbrauchtes Verteilungssystem von Arbeit und Kapital zu begreifen.

  3. Die aktuelle Krise ist eine Krise der Spekulanten. Die Spekulation auf das Elend eines Unternehmens (Leerverkäufe) wird nicht als Anomalie sondern als typisch für die Krise dargestellt. Dadurch gerät aus dem Gesichtsfeld, dass die "Subprimekrise" Ausdruck von Wucher ist, in dem das Geldsystem ein an die Grenze der Ausbeutbarkeit gestoßene Umverteilung der Einkommen von Arbeit/Konsum auf die Einkommen aus Kapital und Risikomanagement ist.

  4. Derivate, Futures, Options, Zertifikate, strukturierte Papiere seien Erfindungen zum Betrug der Massen und nicht missbrauchbare verfeinerte Instrumente der Risikoverteilung und -tragung.

  5. Der Staat sollte lieber Gewinne als Verluste verstaatlichen, statt zu erkennen, dass Banken Staatsfunktionen und wir sehen müssen, wie wir sie zu dieser Verantwortung anhalten, statt den Staat zum Bankier zu machen, der damit eher privat agiert (siehe Landesbanken) als damit staatliche Verantwortung zu transportieren.

Aufklärung tut not!

Es gibt Dichter, die uns helfen können, die Krise zu verstehen. Dazu gehören Erich Kästner ("Lärm im Spiegel" 1929), Dostojewski (in Der Idiot) oder Balzac (in Glanz und Elend der Kurtisanen). Sie erinnern alle daran, dass Geld bei manchen Menschen vom Mittel zum Zweck geworden ist.

Das reicht aber heute nicht mehr. Wir versuchen dies täglich auf unserer Website in verständlicher Sprache und am Wochenende in London. Unterstützung erhalten wir bisher kaum. Ein Defizit für London ist vorprogrammiert, wo zum ersten Mal die Regierung des Gastgeberstaates einer ECRC Konferenz selber keinen Pfennig beisteuert, nachdem sie über 100 Mrd. € für die Banken gegeben hat. Kritische Fragen nach Alternativen sind nicht gefragt. Das liegt aber auch an "uns". Wir arbeiten zu wenig an dem Verständnis, lesen zu wenig die Hintergründe und beteiligen uns zu wenig. Der Erfolg dieser groben Tucholsky Fälschung sollte ein Alarmsignal sein, nicht für die Germanisten, die den Niedergang des Literaturverständnisses beklagen mögen, sondern für uns, weil wir mit so wenig zufrieden sind.

Wir haben uns gefreut, dass wir auf die Zusendung der Friedensvorlesung zur Kreditkrise an Menschen, die uns dieses Gedicht gesandt haben, die Rückmeldung erhielten, man habe die Analyse gelesen und auch verstehen können. Deshalb hier noch mal der Mut: Schaut Euch einmal die Überlegungen dort an und geht dann weiter vielleicht zu den anderen Artikeln.

Die Entstehung der Gedicht-Legende: Die Aufklärung

Die Entstehung einer Gedicht-Legende

Es ist ja häufig kaum nachzuvollziehen, warum und weshalb bestimmte Aussagen Tucholsky untergeschoben werden. Um so schöner ist es daher, wenn sich die offensichtlich falsche Verbindung eines Textes mit der Autorschaft Tucholskys einmal "live" mitverfolgen lässt.

Seit gut zwei Wochen geistert im Internet (wo sonst) ein Gedicht herum, das Tucholsky angeblich 1930 in der Weltbühne veröffentlicht hat. Es beschreibt so perfekt die aktuelle Finanzkrise , dass jede Debatte um eine mögliche Vergleichbarkeit mit der Weltwirtschaftskrise von 1929ff sofort verstummen müsste: Heute alles genau wie damals!


Das titellose Gedicht beginnt mit:


Wenn die Börsenkurse fallen,

regt sich Kummer fast bei allen,

aber manche blühen auf:

Ihr Rezept heißt Leerverkauf.


Keck verhökern diese Knaben

Dinge, die sie gar nicht haben,

treten selbst den Absturz los,

den sie brauchen - echt famos!


Leichter noch bei solchen Taten

tun sie sich mit Derivaten:

Wenn Papier den Wert frisiert,

wird die Wirkung potenziert.

[...]


Schon die Tatsache, dass Tucholsky damals von Leerverkäufen und Derivaten schrieb, sollte einen arg stutzig machen. Vom Stil ganz abgesehen. Wohl auch deswegen gingen bei der Tucholsky-Gesellschaft schon mehrere Anfragen ein, ob dieses Gedicht tatsächlich von Tucholsky stamme. Diese Frage haben sich ebenfalls einige Leser im Niggemeier-Blog gestellt, wo das Gedicht bald aufgetaucht war. Und sie haben des Rätsels Lösung gefunden:

Die Angabe von Tucholsky als Urheber ist wohl sicher ein Lesefehler, der auf folgender Seite gut nachvollzogen werden kann und auch von ihr stammen müßte:

http://weltrandbewohner.blog.v...die-krise/

Ein gewisser Waltomir (bzw. eben eine Freundin von ihm, s.u.) hat nicht genau gelesen und mit dem Fehler am 15.10. die seriöse und von Bibliothekaren gern frequentierte Zeit-Kommentar-Seite infiziert:

http://kommentare.zeit.de/user...e-freundin

Womit das bisher namenlose Poem dann auch einen recht hübschen Titel hätte, jedenfalls besser als die nicht sehr phantasievolle erste Zeile.


Weil die falsche Fährte so klassisch schön angelegt ist, sei sie hier noch mal wiedergegeben:


[...]

Aber sollten sich die Massen

das mal nimmer bieten lassen,

ist der Ausweg längst bedacht:

Dann wird bisschen Krieg gemacht.


Klasse! Und jetzt Tucholsky. Es wurde 1930 in der Weltbühne veröffentlicht. Und es trifft bis heute zu.


Die freie Wirtschaft


Der eigentliche Autor des Gedichtes scheint ein gewisser Richard G. Kerschhofer zu sein, der den Text unter dem Pseudonym Pannonicus und dem Titel "Höhere Finanzmathematik" wohl zuerst hier veröffentlicht hat.


Die Verbreitung des Gedichtes unter der Urheberschaft Tucholskys wird sicher munter weiter gehen. Es sei denn, alle Zeitungen klären ebenso brav wie die Frankfurter Rundschau ihre Leser über den wahren Sachverhalt auf.


Das Pamphlet selber

Wenn die Börsenkurse fallen,

regt sich Kummer fast bei allen,

aber manche blühen auf:

Ihr Rezept heißt Leerverkauf.


Keck verhökern diese Knaben

Dinge, die sie gar nicht haben,

treten selbst den Absturz los,

den sie brauchen - echt famos!


Leichter noch bei solchen Taten

tun sie sich mit Derivaten:

Wenn Papier den Wert frisiert,

wird die Wirkung potenziert.


Wenn in Folge Banken krachen,

haben Sparer nichts zu lachen,

und die Hypothek aufs Haus

heißt, Bewohner müssen raus.


Trifft's hingegen große Banken,

kommt die ganze Welt ins Wanken -

auch die Spekulantenbrut

zittert jetzt um Hab und Gut!


Soll man das System gefährden?

Da muss eingeschritten werden:

Der Gewinn, der bleibt privat,

die Verluste kauft der Staat.


Dazu braucht der Staat Kredite,

und das bringt erneut Profite,

hat man doch in jenem Land

die Regierung in der Hand.


Für die Zechen dieser Frechen

hat der Kleine Mann zu blechen

und - das ist das Feine ja -

nicht nur in Amerika!


Und wenn Kurse wieder steigen,

fängt von vorne an der Reigen -

ist halt Umverteilung pur,

stets in eine Richtung nur.


Aber sollten sich die Massen

das mal nimmer bieten lassen,

ist der Ausweg längst bedacht:

Dann wird bisschen Krieg gemacht.



Die Fälschung: "Kurt Tucholsky, 1930, veröffentlicht in "Die Weltbühne""


ID: 42047
Author(s): UR
Publication date: 10/11/08
   
URL(s):

Friedensvorlesung zur Kreditkrise
 

Created: 10/11/08. Last changed: 17/11/08.
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